Neues vom Stadtschreiber: Ginsheimer "Freiheitsbrief" von 1817

Von Hans-Benno Hauf

„Original-Abkaufs-Urkunde über die Domanial- oder Leibeigenschafts-Frohnen der frohnpflichtigen Unterthanen zu Ginsheim 1817“ lautet der Titel einer der wohl wichtigsten Urkunde im historischen Archiv der Stadt, ausgestellt am 13. Oktober im Auftrag von Großherzog Ludwig I. in Darmstadt.

Was war geschehen? Die großherzogliche Landesregierung erlässt 1811 eine Verordnung über die Aufhebung der Leibeigenschaft und erläutert 1812, Leibeigenschaft und Frondienste „für ewige Zeiten“ abzukaufen. Ginsheim ist damals dem Amt Kelsterbach zugewiesen, dem die Ginsheimer 680 Gulden „in guten, gangbaren harten Münz Sorten zu Unserm Rentamt“ zu zahlen haben (§ 1). Die Zahlung muss nach § 2 in fünf Raten am 11. November (Martini) der Jahre 1817 bis 1821 an die vorgenannte Behörde geleistet werden.  Die enorme Summe von 680 Gulden betrifft aber ausdrücklich nicht die Berechnung und Abgabe des Zehnten, der gemäß § 3 zunächst noch in Natur zu leisten ist, bis die Umwandlung in eine Grundrente erfolgt. Dafür hat sich die Gemeinde in einer Übereinkunft mit dem Amt Kelsterbach zuvor wohl erklärt. Zu Guter Letzt verordnet der Großherzog, dass alle Fronleistungen, über die in der Urkunde noch nicht bestimmt sind, für eine Zahlung von 172 Gulden und 40 Kreuzer „auf ewige Zeiten“ abgekauft und von den Ginsheimer Untertanen bezahlt werden sollen. Andernfalls habe der Rentbeamte zu Langen jährlich aus der Gemeindekasse für Besoldungs-, Holz-, Fuhr- und Macherlohn vier Gulden und 28 Kreuzer sowie die üblichen Naturalien zu erhalten.

Auf den ersten Blick eine erfreulich großherzogliche Geste. Konnten die Ginsheimer sich doch durch eine einmalige zinslose Zahlung von der missliebigen Leibeigenschaft befreien. Doch der Schein trügt. Ludwig schlägt aus der Abschaffung der althergebrachten Privilegien noch im wahrsten Sinne des Wortes Kapital. Angesichts des Endes der feudalen Rechte schon 1793 im linksrheinischen Rheinhessen, der Reformen durch Karl vom und zum Stein in Preußen 1807 sieht sich der hessen-darmstädtische Regent von Aufständen oder gar Revolution bedroht, sollte er auf die freiheitlichen Bewegungen nicht reagieren.  Mit vorgespielter Großzügigkeit begegnet er dieser Gefahr und zieht dem gemeinen Mann das ohnehin wenige Geld aus dem (Gemeinde-) Säckel. Zwanzig Jahre später schreibt  Georg Büchner  in „Der Hessische Landbote“ und trifft die Stimmung in der Bevölkerung: „geht einmal nach Darmstadt und seht, wie die Herren sich für euer Geld lustig machen und erzählt dann euern hungernden Weibern und Kindern, daß ihr Brot an fremden Bäuchen herrlich angeschlagen sei, erzählt ihnen von den schönen Kleidern, die in ihrem Schweiß gefärbt, und von den zierlichen Bändern, die aus den Schwielen ihrer Hände geschnitten sind, erzählt von den stattlichen Häusern, die aus Knochen des Volkes gebaut sind; und dann kriecht in eure rauchigen Hütten und bückt euch auf euren steinichten Äckern…“

Heute benötigen wir keinen „Freiheitsbrief“ zur Leibeigenschaft mehr. Wir können uns fest auf das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland verlassen: „Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlicher Gewalt“.

 
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