Neues vom Stadtschreiber ... Notstand und Ultimatum

von Hans-Benno Hauf

Von den Ginsheimer Schulkindern kommen morgens 163 unausgeschlafen zur Schule. 98 klagen über Übelkeit und 19 müssen sich des Öfteren übergeben. Beide ansässige Ärzte bestätigen, dass die Symptome im gleichen Verhältnis auf die übrige Bevölkerung auch zutreffen. Die Ursache sieht Gemeindevertreter Otto Wenke im Zustand des Altrheins und beklagt in der Sitzung am 10. Juli 1959, dass die Gemeinde seit Jahren hilflos zusehen müsse, wie der Altrhein zur Jauchegrube anderer Gemeinden und der Industrie verkomme. Obwohl alle zuständigen Behörden sich von dem Übel überzeugten, sei bisher keine Abhilfe geschaffen. Der Notstand habe solch unverantwortliche Ausmaße, dass der Verpflichtung der Gemeinde aus § 1 der Hessischen Gemeindeordnung, für das Wohl ihrer Bürger sorgen zu müssen, nicht mehr nachzukommen sei.

Daraufhin fasst die Gemeindevertretung einstimmig den Beschluss, innerhalb von acht Tagen dem hessischen Ministerpräsidenten die Notlage mit den Forderungen a) Entschlammung des Altrheins, b) Frischwasserzufuhr vom Rhein, vorzutragen. Gemeinde-Hauptsekretär Anton Münch hält im Sitzungsprotokoll fest, dass die Gemeindevertretung geschlossen zurücktreten werde, falls innerhalb eines Monats nach Vorsprache bei Ministerpräsident Georg August Zinn „nichts geschieht". Dieser einmalige, Aufsehen erregende Beschluss zeigt Wirkung.

Im September 1959 berichtet das Hessische Fernsehen über ein Fischsterben, begleitet von pestilenzartigem Gestank und zeigt den Schwimmbagger „Sisyphus" bei der Schlammentnahme, die zunächst bis ins Jahr 1960 andauert. Es dauert allerdings bis zum 24. August 1978, als in den Steindamm am südlichen Ende des Altrheins ein vier mal vier Meter großes Durchlassbauwerk zur Frischwasserzufuhr und Erhöhung der Fließgeschwindigkeit eingebaut wird. Und viele Jahre wird es noch brauchen, bis der Ausbaustand der Kläranlagen die heutige Wasserqualität in Altrhein und Rhein ermöglicht.

 
Klassische Ansicht

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