Neues vom Stadtschreiber: Ginsheimer Vergleichsverein oder Schiedsgericht von 1844

von Hans-Benno Hauf

Mit Schreiben vom 22. Januar 1844 erhält der rührige, „hoch zu verehrende“ Ginsheimer Pfarrer Dr. Wilhelm Wägner1 von Landrat Ernst Wilhelm Heim2 aus Groß-Gerau in einer ausgewogenen Stellungnahme die behördliche Erlaubnis „in menschenfreundlicher Absicht“ zur vorläufigen, versuchsweisen Gründung eines Vergleichsvereins oder Schiedsgerichts für die Dauer von drei Jahren.

Landrat Heim scheint auf das Gesuch des Pfarrers vom 1. Dezember 1843 gründlich recherchiert zu haben, denn er beruft sich auf nachgelesenen Erfahrungen aus Dänemark, Preußen und dem Anhaltischen und rät zur Konstituierung eines Kompromissgerichts, bestehend aus dem Bürgermeister und anderen klugen Männern aus Ginsheim. Und Wägner setzt die erteilten Ratschläge zügig um. Er formuliert in sieben Paragrafen die „Statuten des in Ginsheim bestehenden Vergleichsvereins oder Schiedsgerichts“ und erreicht am 3. Februar 1844 „mit Zustimmung der ganzen Gemeinde“ die Umsetzung. Danach sollen Rechtsstreitigkeiten über Forderungen, Grenzen, Vermögensteilungen, Beleidigungen u. a. dem Schiedsgericht vorgetragen werden, jedoch keine unstrittigen Schuldforderungen, Betrug, Diebstahl und „überhaupt Verbrechen, von welcher Art sie seien“. Ständige Mitglieder des Schiedsgerichts sind der Bürgermeister und der Geistliche sowie drei von der Gemeinde zu wählende Ortsbürger und drei Stellvertreter für den Fall der „Verhinderung oder zu naher Verwandtschaft mit einem der streitenden Parteien“.

Sie verwalten ihr Amt unentgeldlich, „denn es sollen durch sie Feindschaft und Ärgernis“ sowie Kosten in der Gemeinde verhütet werden. Zu Gunsten der Armen können sie auf Geldentschädigungen oder auch Geldstrafen erkennen. Zuvor soll aber eine Vereinbarung in Güte erreicht werden. Ist dies nicht möglich, so ergehe mit Stimmenmehrheit ein entscheidender Spruch, der zu protokollieren ist. Unterschreiben beide Parteien das Protokoll, so wird der Spruch mit dem Verzicht auf weitere gerichtliche Schritte verbindlich.

Pfarrer Wägner notiert später3, dass alle Streitigkeiten von Gemeindegliedern fast ohne Ausnahme bis in das Jahr politischer Unruhen 18484 gütlich geschlichtet wurden. Er kann als Vorreiter der freiwilligen Gerichtsbarkeit für Starkenburg im Großherzogtum Hessen gelten, wo Ortsgerichte 1852 eingerichtet wurden5. Auch in den späteren Regelungen zur außergerichtlichen Streitschlichtung im Hessischen Schiedsamtsgesetz6 wirken wesentliche Elemente der Ginsheimer Statuten von Pfarrer Wägner fort.

Quellen:
1) Dr. phil. Wilhelm Wägner, evangelischer Pfarrer in Ginsheim vom 1.11.1842 bis 1.03.1859
2) Landrat des Landratsbezirkes Dornberg, dann Landkreis Groß-Gerau von 1832 bis 1852
3) in seiner Chronik im Jahr 1858
4) Bürgerliche (deutsche) Revolution 1848/1849, in Chronik Wägner von 1858 „Volksversammlungen auch hier“
5) Gesetz in Hessen vom 6.2.2001
6) heute Hessische Schiedsamtsgesetz vom 23.3.1994

 
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