Gedenkstätte "Im Rosengarten"

Stele III

Stele III zum Thema: Leiden im "Totalen Krieg" 

Stele III - Tafel I

Ergänzung

Über den Luftangriff auf das Rhein-Main-Gebiet in der Nacht vom 8. auf den 9. September 1942 berichtete der Kommandant der M.A.N.-Werksfeuerwehr, Philipp Barth:

Am Dienstag, den 8.9.1942 um 23.50 Uhr erfolgte Fliegeralarm. Rund um Mainz sowie über der M.A.N. in Richtung Ginsheim, Hochheim und Rüsselsheim warfen die Feindflieger eine Menge von Leuchtbomben, Brandbomben und zwei Luftminen. Um 0.36 Uhr wurde gemeldet, dass das Russenlager am Schießstand durch Brandbomben getroffen ist und brennt. Zu gleicher Zeit werden Bombeneinschläge hinter den Kohlenwerken gemeldet. Das Betriebsgebäude erzitterte unter den Detonationen und fast alle Fensterscheiben fielen klirrend heraus. (…) Bei den russischen Lagerinsassen, hauptsächlich Frauen, war eine Panik ausgebrochen, als eine Brandbombe auf das Dach des Lagers niederging und unmittelbar darauf die Sprengbomben hinter dem Kohlenlager explodierten. Mit allem, was sie einigermaßen tragen konnten, rannten die Insassen, den Zaun durchbrechend, in den Schießstand. (…) Gleich darauf schwere Bombeneinschläge in Richtung neues Ausländerlager [am Rosengarten]. (…) 0.50 Uhr: die auf das Dach des Russenlagers nieder gegangene Brandbombe war von der Lagerwache vom Dach gezogen und gelöscht worden.“ (Heinz Leiwig/Dieter H. Neliba, Die Mainspitze im Fadenkreuz der Royal Air Force und der 8. USAAF. Bischofsheim 1939-1945, Ginsheim-Gustavsburg 1985, S.73ff)

Zerstörungen nach Bombenangriffen 1944
Bild: Zerstörungen nach Bombenangriffen 1944, M.A.N.-Archiv Gustavsburg
Zerstörungen nach Bombenangriffen 1944
Bild: Zerstörungen nach Bombenangriffen 1944, M.A.N.-Archiv Gustavsburg
Zerstörungen nach Bombenangriffen 1944
Bild: Zerstörungen nach Bombenangriffen 1944, aus M.A.N.-Archiv Gustavsburg

Direktor Reinhardt dokumentiert in seinen internen Monatsberichten akribisch die Schäden, die der Krieg anrichtete: die Zahl der Gefallenen, der als Soldaten einberufenen Mitarbeiter, die wegen Bombenalarms ausgefallenen Arbeitsstunden, die Zerstörungen der Wohnhäuser in Gustavsburg sowie der M.A.N.-Werksanlagen und der Infrastruktur (Gas, Wasser). All das macht das schlimme Schicksal für die Menschen in Ginsheim-Gustavsburg deutlich – für Deutsche wie für Ausländer.

Plan Lager
Bild aus dem Historischen Archiv der MAN, Augsburg, Dir.R. Reinhardt
Anzahl bzw. Gesamtdauer der Fliegeralarme
Bild aus dem Historischen Archiv der MAN, Augsburg, Dir.R. Reinhardt
Anzahl und Dauer der Fliegeralarme
Bild aus dem Historischen Archiv der MAN, Augsburg, Dir.R. Reinhardt
Stele III - Tafel II

Ergänzung

Vergessen war die unterirdische Produktionsstätte der M.A.N. Gustavsburg in den Kalkstein-Stollen in Weisenau auf der linken Rheinseite bald nach dem Zweiten Weltkrieg. Gustavsburg gehörte nicht mehr zu Mainz; der Rhein war die Grenze zwischen der französischen und US-amerikanischen Besatzungszone – dann zwischen den Bundesländern Rheinland-Pfalz und Hessen.

Das Gelände ist heute Naturschutzgebiet. Die Stollen wurden 2019/2020 mit Beton verfüllt. Eine Informationstafel über den Einsatz der dreihundert französischen, flämischen und russischen Zwangsarbeiter und Zwangsarbeiterinnen fehlt.

Kalksteinstollen in Weisenau
Bild am 7.12.1944
Kalksteinstollen in Weisenau
Bild: 19.8.1944. Aus dem Fotoalbum des M.A.N.-Archivs Gustavsburg 1986

Luftbild von Mainz-Weisenau, oben rechts der Kalksteinbruch, den die M.A.N. Gustavsburg ab Juni 1944 zur unterirdischen Produktionsstätte (Teile für die V1 und V2) ausbauen ließ und dann zur sicheren Unterbringung von Maschinen nutze. So konnte der Aufbau der von den Nazis zerstörten Brücken schon im April 1945 beginnen. Links oben die Rhein-Insel Bleiaue, wo die M.A.N. ein Hofgut betrieb.

Luftbild
(Stadt Mainz, c/o University of Keele, Großbritannien 1990, übermittelt von Malin Pfänder, 2020)
Stele III - Tafel III

Ergänzung

Zu Fuß von Gustavsburg nach Darmstadt-Griesheim: Zweitausend Zwangsarbeiter am 22.3.1945 fast spurlos „verschwunden“

Späte Spurensuche für die Gedenkstätte in Ginsheim-Gustavsburg
von Christine Hartwig-Thürmer

Der interne Monatsbericht der M.A.N. Gustavsburg vermerkt für den 17.3.1945 den „Bestand an Arbeitskräften“: 5.686. Während der damals zu Mainz gehörige rechtsrheinische Vorort nur rund 2500 Einwohner zählte, beschäftigte der Industriebetrieb mehr als doppelt so viele Menschen, darunter „2114 zivile Ausländer aus 10 Nationen, davon 714 Ostarbeiter im Werk, 7 auf Baustellen.“

Zwangsarbeiter und -arbeiterinnen aus Ländern der Sowjetunion bei der M.A.N. Gustavsburg werden zum Schweißen angelernt
Bild: Zwangsarbeiter und -arbeiterinnen aus Ländern der Sowjetunion bei der M.A.N. Gustavsburg werden zum Schweißen angelernt (1943) (HHStAW, 520 GG, Reinhardt 3)

Am 25. März 1945 setzten US-amerikanische Truppen von Mainz-Kostheim aus über den Main nach Gustavsburg und übernahmen die Kontrolle über das Werk und die Verwaltung des Ortes. Der Betriebsleiter, Direktor Richard Reinhardt, hatte sich noch eine Woche zuvor dem Befehl zur Zerstörung der Produktionseinrichtungen widersetzt. Auch die 200 Lehrlinge, die noch zum Volkssturm eingezogen und an die Front geschickt werden sollten, hatte Reinhardt nicht freigegeben. Er blieb im Werk und übergab es unzerstört der Besatzungsmacht. Vom 1. bis zum 19. April 1945 wurde das Gustavsburger M.A.N.-Werk von 1200 Pionieren des US-Regiments 333 besetzt; das Zweigwerk Weisenau erhielt schon am 29. März eine uneingeschränkte Betriebserlaubnis. So konnte nach kurzer Zeit – schon vor der bedingungslosen Kapitulation des NS-Staates am 8./9.5.1945 - der Wiederaufbau der Brücken über den Rhein und den Main beginnen, die die Deutsche Wehrmacht auf ihrem Rückzug noch gesprengt hatte.

1704 wieder eingestellte Arbeiter, Angestellte und Montagearbeiter nennt der erste interne Monatsbericht nach dem Kriegsende für das M.A.N.-Werk Gustavsburg. Doch die ausländischen Arbeitskräfte werden mit keinem Wort erwähnt.

Wo sind die 2835 Menschen geblieben, die als Zwangsarbeiter bei der M.A.N. bis zum Kriegsende in Gustavsburg eingesetzt waren und hier lebten?

In seinem Verfahren vor der Spruchkammer Groß-Gerau berichtete Adam Regner, der stellvertretende Leiter des M.A.N.-Ausländerlagers: „Am 18.3.1945, morgens um 11 Uhr, kam plötzlich Herr P.[Wilhelm Paape, Leiter des Ausländerlagers] zu mir auf das Lagerbüro und erklärte, dass der Abtransport der Ausländer am 19.3.1945 um 7.00 Uhr zu erfolgen hat. […] In aller Eile mussten nachts die Sachen gepackt werden. […] Am Morgen des 19.3.45, pünktlich um 7.00 Uhr früh, nachdem alles reisefertig vor den Baracken stand, erschien der Polizeioberleutnant Jost mit 20 Wachtmeistern der Schutzpolizei Mainz. Herr Gutgesell als Leiter des Werkschutzes musste ebenfalls 20 Mann, bewaffnet mit Karabinern, zum Abtransport der Ausländer bereitstellen. Als Transportleiter war ich persönlich bis zu der Ablieferung an den angegebenen Stellen verantwortlich.“

Gegen 9 Uhr hatten alle 2000 Ausländer das Lager in Richtung Groß-Gerau zu Fuß verlassen. Niemand wusste genau, was mit den Männern, Frauen und Kindern passieren würde. Der erste Marschtag ging bis nach Groß-Gerau. Die als Unterkunft zugewiesene Zuckerfabrik bot nur Stein- und Bretterboden, keine Ausstattung und Verpflegung. Nur die Frauen und Kinder konnten „in der Restauration des Gefolgschaftshauses“ unterkommen. Am nächsten Tag, dem 20.3.1945, ging der Marsch ohne Frühstück um 7 Uhr weiter nach Darmstadt. Adam Regner konnte als verantwortlicher Transportleiter für die Kranken und die Kinder einen Wagen zum Transport nach Darmstadt organisieren. Er berichtet weiter: „Auf dem Marsch von Groß-Gerau nach Darmstadt waren die Marschierenden immer wieder Tieffliegerangriffen ausgesetzt. […]

Nachmittags um 16 Uhr ist die Spitze an der Autobahn von Darmstadt eingetroffen. Die Westarbeiter wurden links, die Ostarbeiter rechts in dem dort befindlichen Wald abgestellt. Eine Stunde später wurde uns mitgeteilt, dass ein Verpflegungszug der NSV [Nationalsozialistische Volkswohlfahrt] eintreffen würde. Dies war der Fall. Jeder Ausländer erhielt einen Liter dünne Haferflockensuppe und sonst nichts.“

Wald an der Autobahn
Bild von http://motorbloeckchen.com/?page_id=19785, Download am 08.12.2019, 15.27 Uhr
Frühere Wagenhalle der Straßenbahn in Darmstadt-Griesheim
Bild: Frühere Wagenhalle der Straßenbahn in Darmstadt-Griesheim, im Dezember 2019, Foto: C.H-Th

Die Nacht mussten die Menschen dort im Wald an der Autobahn im Freien zubringen. Am nächsten Tag wurden „die Westarbeiter in dem Woolworth-Gebäude in Darmstadt abgeliefert. Von diesem Moment an hatte ich mit diesen nichts mehr zu tun.

Adam Regner und Polizeioberleutnant Jost brachten die andere Gruppe, die ca. 900 „Ostarbeiter“, nach Darmstadt-Griesheim in die dortige Wagenhalle der Straßenbahn, auch heute noch direkt gegenüber der Ortverwaltung. Obwohl die ausgeräumte, leere Halle keine Unterkunft oder Verpflegungsmöglichkeiten bot, wurden die Männer, Frauen und Kinder dort zurückgelassen.

Einzelne ausländische Beschäftigte der M.A.N. kehrten wieder nach Gustavsburg zurück und wollten hier weiterarbeiten. Sie wurden von den US-Besatzungsbehörden in Mainz-Kastel im UNNRA-Lager untergebracht und bei den Spruchkammerverfahren als Zeugen gehört. Doch insgesamt ist das Schicksal der Zwangsarbeiter und Zwangsarbeiterinnen der M.A.N. Gustavsburg unbekannt. Fast alle Nachforschungen und Nachfragen seit 1985 blieben ergebnislos oder unbeantwortet.

Aber vielleicht gibt es in Darmstadt, Griesheim oder Groß-Gerau doch noch Hinweise auf diejenigen Zwangsarbeiter der M.A.N., die zwischen dem 19. und dem 22. März 1945 zu Fuß von Gustavsburg aus unterwegs waren und im Woolworth-Gebäude oder in der Wagenhalle der Straßenbahn ins Ungewisse verlassen wurden?

75 Jahre danach erinnert nun in Ginsheim-Gustavsburg eine Gedenkstätte für die Zwangsarbeiter und Zwangsarbeiterinnen, um an das Lebensschicksal der Menschen zu erinnern.

Stele III - Tafel IV

Ergänzung

Karteikarte Boer
Besuch von Jan Boer in Gustavsburg
Bild: 11.8.1956 Besuch von Jan Boer in Gustavsburg

Aus Frankreich und Holland gibt es einzelne Zeitzeugen.

Urlaubsschein
Bild: Urlaubsschein


Portrait

Claus Daschmann, ehemaliger Kulturamtsleiter der Gemeinde Ginsheim-Gustavsburg und lange Zeit Vorsitzender des Heimat- und Verkehrsvereins, erinnerte sich noch an die Zwangsarbeiter, die in die Bäckerei Gehmäcker kamen, wo seine Mutter – unerlaubter Weise – auch Weißbrot an „Ostarbeiter“ abgegeben hat. Als kleiner Junge durfte er mit ihr und einigen wenigen Gustavsburgern am Friedensfest der Zwangsarbeiter teilnehmen. Aufgeschrieben hat er seine Erinnerungen leider nicht.

Frau Daschmann, 2. von rechts
Bild: Frau Daschmann, 2. von rechts
Buchtitel: Als Zwangsarbeiter auf der Schiffswerft in Mainz-Gustavsburg 1943 bis 1945

Pierre Cordier, ehemals Zwangsarbeiter bei der Schiffswerft, kam in den 70er Jahren nach Gustavsburg zu Besuch. Seine Erinnerungen hat Dr. Hedwig Brüchert übersetzt und 2005 als Sonderheft der Mainzer Geschichtsblätter im Verein für Sozialgeschichte Mainz herausgegeben.

Ein Kontakt zu Menschen aus der ehemaligen Sowjetunion gelang leider noch nicht.

Deren Schicksal war meist noch schwerer. Aus den Akten und Dokumenten erfahren wir von dem Leiden der sogenannten „Osterabeiterinnen“ und „Ostarbeiter“. Ein Beispiel:

Nelly Jarosch kam am 1. März 1944 im M.A.N.-Lager zur Welt. Bevor sie mit ihrer Mutter nach Russland zurückkehren konnte, starb sie schon am 23. Oktober 1944 um 20.45 Uhr. „Ernährungsstörung, Kreislaufschwäche“ sind als Todesursache in der Sterbeurkunde angegeben. Sie wurde – wie auch weitere fünf Babies von russischen Zwangsarbeiterinnen – auf dem Gustavsburger Gemeindefriedhof beerdigt. (Feld 5, Reihe 1, Grab Nr. 2)

Heute erinnert nichts an die toten Zwangsarbeiterkinder und Erwachsene, die in Gustavsburg bestattet wurden.

Der Platz auf dem die Gedenkstätte für die Zwangsarbeiter und Zwangsarbeiterinnen 1940-1945 in Ginsheim-Gustavsburg steht, könnte – stellvertretend für alle Zwangsarbeiterkinder – Nelly-Jarosch-Platz heißen.

Totenschein Nelly Jarosch

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