Fünf Jahre Hanau: Lesung und Gespräch mit Çetin Gültekin und Mutlu Koçak, eine Nachbetrachtung

 

Es gibt Verbrechen, die zu grausam sind, um sie in Worte zu fassen. Es gibt Trauer, die so tief geht, dass sie keinen Raum für ein Lachen lässt. Es gibt Verzweiflung, die so erdrückend ist, dass sie das Vergessen unmöglich macht. Und es gibt Wut, die so überwältigend ist, dass man sie nicht loslassen kann. All das trifft auf die Angehörigen der neun Opfer des rechtsextremistischen Attentats von Hanau am 19. Februar 2020 zu. Und all das trifft im Besonderen auf Çetin Gültekin zu. Er verlor bei diesem Attentat nicht nur seinen einzigen Bruder Gökhan, sondern auch sein Vertrauen in alles, woran er zuvor geglaubt hatte.

Aus Trauer, Verzweiflung und Wut entstand vor einem Jahr ein Buch, das Çetin Gültekin gemeinsam mit Mutlu Koçak verfasst hat. Seit seiner Veröffentlichung sind die beiden auf Lesereise, unterwegs durch Deutschland und darüber hinaus.  

Am vergangenen Sonntag, nur drei Tage vor dem fünften Jahrestag des Attentats, machten sie auf Einladung der Initiative „Miteinander in der Mainspitze – Gemeinsam in Vielfalt leben“ Station in der Turnhalle des TV 1883 in Bischofsheim, um ihr Buch „Geboren, aufgewachsen und ermordet in Deutschland: Das zu kurze Leben meines Bruders Gökhan Gültekin und der Anschlag von Hanau“ vorzustellen.

Die Resonanz übertraf selbst die kühnsten Erwartungen der Organisatoren, Filiz Konur-Zech, Bodo Schneider-Schrimpf, Patrick Pfannschmidt und vieler weiterer Unterstützer*innen der Initiative. Die Turnhalle füllte sich rasch mit Menschen, sodass trotz eilig herbeigeholter zusätzlicher Sitzgelegenheiten zahlreiche der circa 130 Gäste mit einem Stehplatz Vorlieb nehmen mussten.

Doch ganz gleich, ob man stand oder saß, die intensiven Schilderungen der beiden Freunde Çetin Gültekin und Mutlu Koçak bewegten das gesamte Publikum.

Zu Beginn führte Bodo Schneider-Schrimpf für die Initiative „Miteinander in der Mainspitze“ in das Thema ein, bevor die Bischofsheimer Bürgermeisterin Lisa Gößwein die Bedeutung eines friedlichen und kooperativen Zusammenwirkens, auch vor dem Hintergrund der 80-jährigen Wiederkehr des Endes des Nazi-Regimes, hervorhob.

Danach folgten die Zuhörer*innen bewegt den Erzählungen von Çetin Gültekin und den Erläuterungen seines Freundes Mutlu Koçak, der als Co-Autor und Soziologe die Ereignisse einordnete.

Çetin Gültekin machte keinen Hehl daraus, dass er seit der verhängnisvollen Nacht vor fünf Jahren ein gebrochener Mann ist. Die einzige Triebfeder weiterzuleben, so wurde jedem im Raum schnell klar, ist sein Kampf, die Erinnerung an seinen Bruder und die weiteren Opfer von Hanau wach zu halten. Mit Schilderungen, die unter die Haut gingen, ersparte er dem Publikum kein grausames Detail, wie etwa die Entgegennahme des durch eine schlecht durchgeführte Obduktion zerstörten Leichnams seines Bruders. Polizei, Behörden und Politik warf Çetin Gültekin Komplettversagen vor. Unfassbar für ihn bleibt bis heute die Tatsache, dass der Notruf zeitweise nicht erreichbar war. Auch der Umstand, dass der Notausgang am letzten Tatort, der "Arena Bar", versperrt war, treibt ihn um. Dort tötete der Täter Hamza Kurtović und Said Nesar Hashemi. Zuvor hatte er im angrenzenden Kiosk bereits Çetin Gültekins Bruder sowie Ferhat Unvar und Mercedes Kierpacz ermordet, die gerade eine Pizza für ihre Kinder abholen wollte. Am Ende der Wahnsinnstat tötete der Täter seine Mutter und dann sich selbst.

Der Täter kann nicht mehr zur Rechenschaft gezogen werden, doch diejenigen, die die Tat vielleicht hätten verhindern können, sind bis heute im Fokus von Çetin Gültekin. Warum wurde das Waffenrecht 2013 so geändert, dass der psychisch kranke Täter einen Waffenschein erwerben konnte, da er nur noch ein einwandfreies polizeiliches Führungszeugnis, nicht aber das entlarvende gesundheitliche Attest benötigte? Warum wurde das Waffenrecht nach den schrecklichen Erkenntnissen von Hanau nicht wieder angepasst? Es waren viele Fragen, die Çetin Gültekin an diesem Abend aufwarf, Fragen auf die er bis heute nur wenige Antworten hat. Aber er wird weitermachen, um den Opfern eine Stimme zu geben und um sich gegen Rassismus in Deutschland einzusetzen.

Am Ende der Veranstaltung verließ ein sichtlich bewegtes Publikum die Turnhalle, das den Schmerz und die Verzweiflung um einen verlorenen Bruder intensiv nachempfinden konnte.

Text: Carola Vogel / Foto: Sabine Neumann

 

Bitte wählen Sie Ihre Cookie-Präferenzen